Irak im ChaosDie USA gehen, der Bürgerkrieg kommt
Die US-Truppen sind weg, und schon geht im Irak alles drunter und drüber. Der Machtkampf zwischen Schiiten und Sunniten eskaliert, ein Zerfall des Landes wird wahrscheinlich.

Ein irakischer Soldat neben einem Fahrzeug, das bei der Anschlagsserie am Donnerstag zerstört wurde. (Bild: Reuters/Saad Shalash)
Der schlimmste Bombenterror seit Monaten hat am Donnerstag die irakische Hauptstadt Bagdad erschüttert und fast 60 Menschen das Leben gekostet. Zu den Anschlägen bekannte sich zunächst niemand. Angesichts einer Vielzahl von offenbar koordinierten Explosionen wird aber vermutet, dass die Terrorgruppe Al Kaida im Irak verantwortlich ist. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums gab es mindestens 57 Tote und fast 200 Verletzte. Betroffen waren elf Stadtviertel, in denen es zu mindestens 14 Explosionen kam.
Damit scheinen sich jene Befürchtungen zu bewahrheiten, wonach der Irak nach dem Abzug der US-Truppen zurück in Gewalt und Chaos stürzen könnte. Am Wochenende hatten die letzten amerikanischen Soldaten das Land nach fast neun Jahren Krieg und Besatzung verlassen. Und bereits scheint sich die von Präsident Barack Obama in seiner Abschiedsrede beschworene «Stabilität» in Luft aufzulösen. Denn nicht nur der Terror meldet sich zurück, auch der politische Machtkampf im Zweistromland ist voll entbrannt.
Iran und Syrien spielen mit
Der schiitische Ministerpräsident Nuri al Maliki hat den sunnitischen Vizepräsidenten Tarik al Haschimi zur Verhaftung ausgeschrieben, weil dieser angeblich in die Planung von Terroranschlägen verwickelt war. Haschimi flüchtete darauf in das autonome Kurdengebiet und beteuert seine Unschuld. Außerdem verlangte Maliki vom Parlament die Entlassung seines ebenfalls sunnitischen Stellvertreters Salih al Mutlak. Dem aus Säkularen und Sunniten bestehenden Irakija-Bündnis drohte Maliki mit dem Rauswurf aus der Regierung.
Der Irakija-Allianz gehören sowohl Haschimi als auch Mutlak an. Dieser erhob gegenüber der BBC schwere Vorwürfe: «Der politische Prozess, der den Irak hätte demokratisieren sollen, brachte in Wirklichkeit eine Person und eine Partei an die Macht», sagte Salih al Mutlak in Anspielung auf Maliki und dessen Dawaa-Partei. Es gebe keine echte Machtteilung, so Mutlak weiter: «Das Land bewegt sich hin zu einer brutalen, rückwärtsgewandten Diktatur ohne einen Funken Weisheit.»
Misstrauen sitzte tief
Das Misstrauen zwischen Sunniten und Schiiten sitzt tief. Die Sunniten verdächtigen Maliki und seine Alliierten, sie wollten den Irak zu einem «Vasallen» des schiitischen Iran machen. Umgekehrt sind die Schiiten besorgt wegen des Aufstands im Nachbarland Syrien. «Sie fürchten das Entstehen eines sunnitischen Syrien mit baathistischen und salafistischen Tendenzen», sagte ein hoher irakischer Politiker der BBC. Viele Mitglieder der verbotenen Baath-Partei des gestürzten Diktators Saddam Hussein sind nach Syrien geflüchtet.
Amerikaner mit beschränkter Macht
Die Amerikaner verfolgen die Entwicklung mit Besorgnis. Trotz des Truppenabzugs sind sie im Irak immer noch sehr präsent. Ihre Botschaft in Bagdad ist die mit Abstand größte weltweit, außerdem geben sie Milliarden aus für die Ausbildung und Aufrüstung der Sicherheitskräfte. Doch selbst dies könnte nicht genügen, um die ethnischen und konfessionellen Gräben zu überwinden und die Volksgruppen miteinander zu versöhnen.
«Die schiitisch-sunnitische Spaltung ist tief, es wird Generationen dauern, bis sie verschwindet», sagte Christopher Hill, bis letztes Jahr US-Botschafter in Bagdad, der «New York Times». «Es besteht eine große Feindseligkeit. Wir können nur versuchen, Maliki dazu zu bringen, das richtige zu tun.»
Zerfällt Irak?
Optimismus klingt anders, vielmehr scheint der Irak – ein von der britischen Kolonialmacht künstlich geschaffenes Gebilde – auf die von Experten seit Jahren befürchtete Spaltung zuzusteuern.
Das Kurdengebiet hat sich schon vor Jahren für autonom erklärt. In den letzten Wochen haben sich drei mehrheitlich sunnitische Provinzen angeschlossen. Ein Zerfall des Irak enthält jedoch viel Sprengstoff, denn weite Gebiete sind von einer durchmischten Bevölkerung bewohnt. «Ich fürchte, das Machtvakuum wird zu einer Aufteilung des Landes führen, begleitet von Kriegen über Grenzen und Bodenschätze», sagte Vizepremier Salih al Mutlak der BBC. Eine wahrlich pessimistische Prognose.
(L'essentiel Online/pbl)