MordprozessEin Abtreibungsarzt schockt die USA
Der Mordprozess gegen einen Arzt entfacht in den USA die Debatte um den Schwangerschafts-Abbruch neu: Der Mann soll lebenden Kindern das Rückgrat durchtrennt haben.

Dr. Kermit Gosnell wird unter Anderem der Kindstötung bezichtigt.
Wird er des Mordes schuldig gesprochen, droht Dr. Kermit Gosnell die Todesstrafe. Dem 72-jährigen Allgemeinpraktiker wird seit sechs Wochen vor einem Strafgericht in Pennsylvania der Prozess gemacht, weil er in seiner Praxis in Philadelphia angeblich mindestens vier Föten kurz vor der natürlichen Geburt abgetrieben hat, indem er ihnen außerhalb des Mutterleibs das Rückgrat durchtrennte. In Gosnells Klinik starb zudem eine 41-jährige Frau während einer Abtreibung an einer Überdosis Betäubungsmittel. Seit Dienstag beraten die Geschworenen über die Schuld des Doktors.
Die Kunde von dem blutigen, drei Jahrzehnte währenden Treiben hat landesweit Abscheu erregt. Goswells Klinik lag in einem Armenquartier Philadelphias und trug den Namen «Women’s Medical Society». Doch die Anklage nannte sie «House of Horrors». Als Fahnder der US-Drogenbehörde die Praxis 2010 besuchten, weil sie dort Drogenvergehen vermuteten, stießen sie auf schmutzige, nach Katzenurin stinkende Räume mit blutverschmierten Böden; überall standen Einmachgläser mit Körperteilen abgetriebener Föten herum.
«Scheren in die Rücken von Babys gesteckt»
Gosnell wird nicht nur vorgeworfen, dass er ein Gesetz in Pennsylvania missachtete, das Schwangerschaftsunterbrechungen nach mehr als 24 Wochen verbietet. Mehrere frühere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bezeugten, dass es wiederholt zu Kindsmord gekommen sei. Eine Assistentin gab zu, sie habe bei mindestens zehn Babys das Rückgrat «geschnippelt». Schluchzend erzählte sie, wie sie mit dem Handy ein Baby fotografiert habe, bei dem sie wegen dessen Größe und rosa Haut überzeugt gewesen sei, dass es hätte überleben können.
In seinem Schlussplädoyer rollte Staatsanwalt Edward Cameron einen verschmutzten Behandlungstisch in den Gerichtssaal. Er bezeichnete die Klinik als Fließbandbetrieb für einen Strom von armen, meist Minderheiten angehörenden Frauen und Teenagerinnen. «Sind Sie menschlich?», fragte er Gosnell, «diese Frauen mit Medikamenten vollzustopfen und Scheren in die Rücken von Babys zu stecken?»
Der Angeklagte nahm die Anschuldigungen ohne Rührung entgegen. Sein Verteidiger Jack McMahon hatte darauf verzichtet, Zeugen aufzubieten oder Gegenbeweise vorzubringen. Im Schlusswort beschränkte er sich darauf abzustreiten, dass die Babys nachweislich am Leben waren, als sie dem mütterlichen Leib entnommen wurden. Gosnell werde von «elitären» und «rassistischen» Staatsanwälten angeklagt, weil er schwarz sei. «Wir wissen, warum sie es auf ihn abgesehen haben», sagte er bedeutungsschwer.
Debatte neu entfacht
Der Fall könnte die ewige Kontroverse um den Schwangerschaftsabbruch in den USA neu entfachen, weil er sich um die schwierige Unterscheidung zwischen legaler Abtreibung und Mord dreht. Die einzige Differenz bestehe in 15 bis 30 Minuten und einer Entfernung von 30 Zentimetern, sagte Michael Greer vom Pennsylvania Family Institute zur «New York Times». Greer ist wie alle anderen Gegner des Rechts auf Abtreibung überzeugt, dass der Gosnell-Fall den Menschen die Unmoralität jeder Schwangerschaftsunterbrechung vor Augen führe.
Abtreibungsbefürworter sehen sich in die Defensive versetzt. Sie machen geltend, Gosnell sei eine schlimme Ausnahme, da über 98 Prozent der Schwangerschaftsunterbrechungen in den ersten 20 Wochen nach der Zeugung stattfänden und selten zu Komplikationen führten. Je mehr die Rechte von Frauen beschnitten würden, desto eher gerieten sie in die Fänge von Ärzten wie Gosnell, lautet das zentrale Argument.
Die breite Öffentlichkeit konnte sich über lange Zeit gar kein Bild von dem Prozess machen, da die meisten Medien fast nicht darüber berichteten. Konservative Zeitungen und der Kabelsender Fox News nahmen das Thema begierig auf, nicht zuletzt um die «Mainstream»-Medien der Einseitigkeit zu überführen. Erst ein Kommentar der liberalen Kolumnistin Kirsten Powers am 11. April rüttelte die TV-Networks und die grossen Tageszeitungen auf. «Das ohrenbetäubende Schweigen eines zu großen Teils der Medien, die in Amerika einst als Kraft für Gerechtigkeit galten, ist eine Schande», wetterte Powers. Seitdem macht Gosnell national News.
Ob er politisch zu Veränderungen führt, ist unklar. «Der Prozess wird als monumental angesehen werden, ungeachtet des Urteils», sagt der konservative Rechtsanwalt Jay Sekulow laut «Times» voraus. Aber Frauenorganisationen werden sich hüten, politische Konzessionen zu machen. Sie fürchten, jedes auch nur partielle Nachgeben könnte längerfristig das grundsätzliche Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Frage stellen. Bemerkenswerterweise verhalten sie sich damit genau so wie - im anderen politischen Lager - die Waffennarren: Auch die dulden keinerlei Abstriche, weil sie das Recht auf Waffenbesitz nicht gefährden wollen.
(L'essentiel Online/Martin Suter)