Strauss-Kahns FreilassungFrankreich entdeckt seinen Ami-Hass neu
Vom bösen Vergewaltiger zum Opfer einer Lüge - die Wende im Fall Strauss-Kahn beweist den Franzosen, dass ihr Landsmann voreilig von den US-Medien gerichtet wurde. Nun kommt Schadenfreude auf.

Als Dominique Strauss-Kahn im Mai in New York verhaftet wurde, rollte eine Welle der Empörung über Frankreich. Wie konnten die Amerikaner ihren zukünftigen Präsidentschaftskandidaten so erniedrigend behandeln, fragten sich viele. Sie waren schockiert ob den Bildern, die den ranghohen Politiker in Handschellen und unrasiert zeigten. Sie konnten nicht verstehen, wieso eine Person von Strauss-Kahns Renommé in das Gefängnis auf Rikers Island gebracht wurde.
Die Franzosen kritisierten zudem die US-Medien und deren demütigenden Umgang mit dem Fall. Vor allem Boulevardmedien, die Schlagzeilen wie «Chez Perv» oder «Frog Legs It» veröffentlichten, wurden heftig angegriffen. Doch dann sah plötzlich alles anders aus: Die New Yorker Staatsanwaltschaft räumte ein, dass man in den Aussagen des Zimmermädchens zahlreiche Ungereimtheiten fand. Darauf wurde der ehemalige IWF-Chef aus dem Hausarrest entlassen.
Französische Medien jubilieren
Die Reaktionen der Europäer ließen nicht lange auf sich warten. Die Entwicklung des Falls gebe deutlichen Einblick in die «ungesittete und kannibalische Natur der US-Gesellschaft, ihrer Demokratie und ihres Justizsystems.» Einer der ersten, die sich am Freitag zu Wort meldeten, war der ehemalige Premier Lionel Jospin. In seinen Augen sind «die Löwen auf DSK losgelassen» worden. Auch der ehemalige Justizminister Robert Badinter meinte, Strauss-Kahns Behandlung sei mit einer «Hinrichtung, einem Mord durch die Medien» zu vergleichen.
Die Zeitung «Le Monde» übte in ihrer Sonntagsausgabe besonders harte Kritik an den «Launen der US-Abläufe», die Dominique Strauss-Kahn «verurteilt haben, noch bevor die Ermittlungen begonnen» hatten. Den hohen Preis zahle der Politiker mit dem Verlust seiner Stelle als IWF-Chef und seiner politischen Zukunft. Die unseriöse Art und Weise, wie die Medien und die Polizei mit den Informationslecks umgingen, schreibt «Le Monde» weiter, habe den Franzosen «von Anfang an in eine Position der Schwäche gesetzt».
Anti-Amerikanismus reloaded
Nachdem bekannt wurde, dass die Beweismittel der Staatsanwaltschaft mehr als zweifelhaft sind, ist die Genugtuung in Frankreich groß. «Dieser Dreh weckt einen schlummernden Anti-Amerikanismus - und die großen Verlierer sind die US-Justiz und die New Yorker Polizei», meinte der französische Politikwissenschaftler und Publizist Dominique Moïsi, ein Experte für die Beziehungen zwischen den USA und Frankreich, gegenüber der «New York Times». Die Entwicklung führe nun zu einem Gefühl, «dass die USA ein gefährliches Land» seien.
Stark beigetragen zum neuen Boom des Amerika-Hasses hat ein Busenfreund von Strauss-Kahn: Der Philosoph Bernard-Henri Lévy hat die Medienberichterstattung als «pornografisch» bezeichnet. Im US-Medienblog «The Daily Beast» beklagte Lévy die «Kannibalisierung der Justiz» durch das mediale Brimborium. Er bezichtigte die USA, eine «grob vereinfachende Moral» zu vertreten. Die Hotelangestellte sei in den Augen der Amerikaner unschuldig, «weil sie eine arme Immigrantin ist und Strauss-Kahn ist schuldig, weil er mächtig ist».
Was meint das Volk?
«Das pragmatische Amerika, das gegen Ideologien rebelliert, ein Land, das das demokratischste Justizsystem der Welt besaß, hat den französischen Robespierreismus leider bis zu den Extremen des Irrsinns getrieben», hielt Lévy in seinem Text fest. «Diese Tatsachen verlangen nun zumindest, dass man eine seriöse, ehrliche und fundierte Selbstkritik betreibt.»
Beim «gemeinen Volk» sind ähnliche Reaktionen erkennbar. Die USA hätten ein «hartes Justizsystem», meinen in den USA lebende Franzosen, die von «New York Times» spontan befragt wurden. «In Frankreich glauben wir, dass ein Mensch unschuldig ist, bis seine Schuld bewiesen ist. In den USA ist man automatisch schuldig», sagt ein 28-Jähriger. Ein 30-Jähriger behauptet, seit der Verhaftung Strauss-Kahns in seinem Umfeld nur Spott gegen ihn als Franzosen zu spüren. Der 50-Jährige Patrice Randé hält den Fall DSK für einen «kolossalen Fehler» der US-Justiz. «Es wäre für die amerikanisch-französischen Beziehungen fast besser, wenn er sich als schuldig erweisen würde.»
L'essentiel Online/kle