Jahrhundertrede – «I have a dream»

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Jahrhundertrede«I have a dream»

Vor 50 Jahren hielt der US-Bürgerrechtler Martin Luther King seine berühmteste Rede, die bis heute nachhallt. Fünf Jahre später fiel er einem Attentat zum Opfer.

Der «Marsch auf Washington» war eine der gewaltigsten Kundgebungen, die die amerikanische Hauptstadt bis dahin gesehen hatte: Rund 250'000 Menschen, Schwarze wie Weiße, versammelten sich am 28. August 1963 auf dem ausgedehnten Gelände vor dem Lincoln-Denkmal. Sie waren gekommen, um ihre Unterstützung für eine von Präsident Kennedy im Kongress eingebrachte Gesetzesvorlage zu bekunden, die Verbesserungen der sozialen, beruflichen und rechtlichen Stellung der Schwarzen festschreiben sollte.

Prominente wie Burt Lancaster und Marlon Brando waren anwesend, aber auch 150 Kongressmitglieder. Nachdem unter anderen Bob Dylan, Mahalia Jackson und Joan Baez Lieder vorgetragen und zahlreiche Bürgerrechtler Reden gehalten hatten, trat ein Mann vor die Mikrophone, der bereits eine nationale Berühmtheit war: Martin Luther King.

Diskriminierung bis in den Toiletten

Der 1929 in Atlanta im Bundesstaat Georgia geborene King wirkte in den Fünfzigerjahren als baptistischer Prediger in Montgomery, Alabama. Wie in allen ehemaligen Sklavenhalterstaaten des Südens herrschte dort strikte Rassentrennung in allen öffentlichen Einrichtungen, beispielsweise in Bussen, Bibliotheken und Restaurants, ja sogar in Toiletten und auf Friedhöfen. Auch das Wahlrecht besaßen die Schwarzen meist nur auf dem Papier, denn durch Schikanen wie Wahlsteuern, widersinnige Bildungstests und «Großvaterklauseln», die jeden ausschlossen, dessen Großvater nicht wahlberechtigt gewesen war, wurden sie daran gehindert, sich als Wähler registrieren zu lassen.

Am 1. Dezember weigerte sich in Montgomery die schwarze Näherin Rosa Parks, ihren Weißen vorbehaltenen Sitz im vorderen Teil eines Busses zu räumen; sie wurde verhaftet und inhaftiert. Fast alle schwarzen Einwohner von Montgomery boykottierten nun rund ein Jahr lang die Busse, bis am 13. November 1956 der Oberste Gerichtshof der USA den Entscheid eines Distriktgerichts bestätigte, wonach die nach Rassen getrennte Sitzordnung in Bussen verfassungswidrig sei. Martin Luther King, der sich mit mitreißenden Reden zum Anführer dieser Kampagne aufgeschwungen hatte, sah sich in seiner Überzeugung bestätigt, dass gewaltloser passiver Widerstand, wie ihn sein Vorbild Mahatma Gandhi in Indien praktiziert hatte, auch in den USA erfolgreich sein konnte.

Knüppel und Gefängnis

King und seine Getreuen kämpften in den folgenden Jahren ihre friedliche Schlacht in zahlreichen Städten des Südens; mutig boten sie dabei der Gewalt der Staatsorgane wie auch rassistischer Organisationen wie des Ku-Klux-Klans die Stirn. Im April 1963 wurde das ebenfalls in Alabama gelegene Birmingham, die Stadt mit der vielleicht schärfsten Rassentrennung im ganzen Land, zur Zielscheibe seiner nächsten Aktion. Wochen friedlicher Märsche brachten zunächst nur wenig Erfolg, dafür aber die Rekordzahl von 2'500 Verhaftungen. Auch King selbst verbrachte acht Tage im Gefängnis. Bilder von Polizisten, die auf am Boden liegende Frauen einprügelten, und von Kindern, die durch Wasserwerfer zu Boden gerissen wurden, lösten weltweit Empörung aus. Erst am 10. Mai konnte man sich schließlich auf die Aufhebung einer Reihe von diskriminierenden Bestimmungen einigen. Der Erfolg der Kampagne in Birmingham veranlasste Präsident John F. Kennedy und seinen Bruder, Justizminister Robert Kennedy, von nun an die Ziele der Bürgerrechtsbewegung nachdrücklich zu unterstützen. Die Zeit war reif für den «Marsch auf Washington».

«Der Himmel tat sich auf»

In seiner Rede in Washington wies King zunächst darauf hin, dass die Schwarzen auch hundert Jahre nach ihrer offiziellen Befreiung aus der Sklaverei noch immer nicht frei seien. Es werde in Amerika keine Ruhe geben, bis auch den Schwarzen die vollen Bürgerrechte zuerkannt würden, doch sie müssten ohne Gewalt erkämpft werden. Dann kam er zum bis heute legendären Höhepunkt seiner Rede:

«Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Geschwisterlichkeit sitzen werden.

Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und Unterdrückung verschmachtet, sich in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandeln wird.

Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.»

Kings Frau Coretta erinnerte sich später voller Pathos: «Während seine Stimme machtvoll über der unüberschaubaren Menge erklang und in die Welt hinausging, war uns allen, als kämen seine Worte aus einer höheren Region, um durch ihn die unterdrückten Menschen vor ihm zu erreichen. Der Himmel tat sich auf, und wir alle schienen verwandelt.»

Junge Schwarze hielten ihn für altmodisch

King war nun am Höhepunkt seines Ansehens angelangt. Er hielt Vorträge in Europa und Asien und durfte im Dezember 1964 schließlich auch den Friedensnobelpreis entgegennehmen. Auch auf der politischen Ebene gab es Fortschritte: Die Bürgerrechtsgesetze von 1964 und die Wahlrechtsgesetze von 1965 verbesserten die rechtliche Lage der Schwarzen erheblich, wenn auch nicht unbedingt die soziale.

Doch ausgerechnet unter den jungen Schwarzen schwand Kings Popularität allmählich. Sie hielten seinen Kanzelstil für altmodisch, und seine Aufforderung, die Weißen zu lieben, war in ihren Augen realitätsfernes Geschwätz. Radikalere, auch vor Gewalttaten nicht zurückschreckende Aktivisten wie Elijah Muhammad, Malcolm X und Stokely Carmichael gewannen an Einfluss.

Auch das weiße Establishment in Politik und Presse zeigte sich zunehmend irritiert von King, weil er inzwischen den Vietnamkrieg heftig kritisierte und nicht mehr nur die Rassentrennung, sondern die Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft generell anprangerte.

Vorbild für Mandela

Im Frühling 1968 weilte King in Memphis im Staat Tennessee, um streikende schwarze Müllmänner zu unterstützen. Als er am frühen Abend des 4. Aprils 1968 auf den Balkon seiner Unterkunft trat, traf ihn ein Schuss in den Hals. Unverzüglich wurde er ins Spital gebracht, doch es war zu spät. Der vorbestrafte weiße Kleinkriminelle James Earl Ray legte ein Geständnis ab, das er später allerdings widerrief; er wurde zu 99 Jahren Haft verurteilt. Bis heute halten sich hartnäckig Gerüchte, das FBI, das King des Kommunismus verdächtigt und ihn jahrelang ausspioniert hatte, sei in die Tat verwickelt gewesen.

Nelson Mandela, ein anderer Kämpfer gegen den Rassismus, sagte bei einem Besuch des «Lorraine»-Motels, wo King ermordet wurde: «Immer wenn wir deprimiert waren und nicht mehr an unseren Sieg glaubten, haben wir an Martin Luther King gedacht. Und das hat uns Mut und Kraft gegeben.»

L’essentiel Online / rm

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