EU-Posten für Juncker«Ich befinde mich in einem Denkprozess»
LUXEMBURG - Nach seinem Einstand als Fraktionschef der größten Oppositionspartei im Parlament denkt Jean-Claude Juncker über einen Wechsel in ein EU-Spitzenamt nach.

Fast zwei Jahrzehnte lang waren Sie Premierminister in Luxemburg. Jetzt sind Sie Oppositionsführer der Christlich-Sozialen Volkspartei. Wie kommen Sie mit der neuen Rolle zurecht?
Jean-Claude Juncker: «Ach, das ist gewöhnungsbedürftig. Nach fast 32 Jahren in der Politik jetzt zum ersten Male als Abgeordneter vereidigt zu werden, das war schon ein besonderer Moment, weil ich nur Regierungsämter bislang bekleidet habe. Aber ich fühle mich eigentlich nicht unwohl in dieser Rolle. Ich bin aber strikt dagegen, dass meine Partei eine stupide, blinde Oppositionspolitik führt. Wir werden versuchen, aus der Oppositionsrolle heraus das Beste für Land und Leute zu erreichen.»
Die neue Regierung aus Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen hat Luxemburg einen Neustart versprochen. Kommt der jetzt?
«Die neue Regierung hat den Neuanfang zu ihrem Mantra erklärt. Ich habe allerdings bei der Analyse der Regierungserklärung festgestellt, dass zu 80 Prozent weitergeführt wird, was vom vorherigen Kabinett auf den Weg gebracht wurde und was eigentlich Substanzbestandteil des Wahlprogrammes der Christlich-Sozialen Volkspartei ist. Insofern: Neustart Ja, aber das Durchstarten wurde auch von uns ins Auge gefasst.»
Stößt Ihnen das übel auf?
«Wir beklagen uns nach wie vor darüber, dass wir der eigentliche Wahlsieger sind, weil wir 34 Prozent Zustimmung haben und dass zwei Parteien, die jeweils 19 Prozent haben und eine dritte Partei, die zehn Prozent hat, ein Kabinett bilden. Das entspricht unserer Auffassung nach nicht dem Wählerwillen. Der Wähler hat eine andere Koalition gewünscht. Und zwar hat er eine Koalition aus Christlich-Sozialen und Liberalen gewünscht. Und nicht eine Koalition aus drei Parteien, die das Wahlergebnis einfach ignorieren.»
Schließen Sie eine Rückkehr auf das europäische Parkett aus?
«Ich befinde mich mit anderen in einem Denkprozess, von dem ich nicht weiß, wie lange er dauert. Aber ich bin nicht morgen früh sprungbereit. Ich höre denen zu, die mit mir reden. Ich habe vor der Wahl (in Luxemburg) gesagt, ich werde entweder Premierminister oder Abgeordneter. Abgeordneter natürlich für den Fall, dass meine Partei die Wahl massiv verlieren würde. Wir haben sie aber nicht verloren. Wir wurden nicht vom Wähler in die Opposition geschickt, sondern von zwei kleinen Parteien und einer sehr kleinen Partei. Das bleibt nicht ohne Einfluss auf meine Lebensplanung. Aber ich bin mit mir selbst und mit anderen noch nicht im Reinen und im Klaren.»
Die Europawahlen im Mai 2014 gelten als besonders wichtig. Einerseits ist das Parlament so mächtig wie nie, andererseits geht die Wahlbeteiligung zurück, europakritische Stimmen nehmen zu. Sehen Sie eine Gefahr für die Institution?
«Meine Sorge ist groß, dass mit einer sehr schwachen Wahlbeteiligung die Legitimität des Parlaments unterhöhlt wird. Und meine allergrößte Sorge ist, dass am Abend der Europawahlen wir feststellen könnten, dass der europäischen Integration nicht wohlgesonnene Parteien doch einen erheblichen Einfluss im Parlament haben könnten. Die Gefahr, dass Populisten jedweder Provenienz in Europa den Durchmarsch schaffen könnten, ist Teil meiner Überlegungen, wenn die Fragen (um einen EU-Spitzenposten) erörtert werden. Ich werde mich jedenfalls aktiv daran beteiligen, dass die Populisten, die Vereinfacher, die Negationisten europäischer Geschichte ihr Ziel nicht erreichen werden.»
(L'essentiel Online/dpa)