Libysche RegierungIslamisten warnen vor «Ausgrenzung»
Noch ist Libyen nicht befriedet, doch bereits findet ein Gerangel um die Macht statt. Die Bildung einer Regierung verzögert sich. Vor allem die Islamisten melden Ansprüche an.

Islamistenführer Abdel Hakim Belhadsch (l.), der Militärkommandant von Tripolis, mit Mustafa Abdel Dschalil, dem Vorsitzenden des Nationalen Übergangsrats. (Bild: Keystone/AP/Francois Mori)
Ein Neuanfang nach 42 Jahren Diktatur ist nicht leicht. Diese Erfahrung machen die Libyer nun bei der Bildung einer Übergangsregierung. Eine solche sollte eigentlich längst stehen. Doch um die Besetzung der Ministerposten ist ein Streit entbrannt, der bislang nicht gelöst werden konnte. Mustafa Abdel Dschalil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats, gestand ein, dass es «Meinungsverschiedenheiten» innerhalb der ehemaligen Rebellen gibt.
«Wir sind mit der libyschen Mentalität konfrontiert, wonach jeder Stamm, jede Region, jede Stadt ihren Anteil an der neuen Regierung beansprucht.» Ausserdem sei Libyen noch nicht komplett befreit, warnte Dschalil. Der frühere Machthaber Muammar Gaddafi könne immer noch «den Libyern und der ganzen Welt schaden». Die Priorität für den Übergangsrat bleibe «die Befreiung des gesamten Territoriums und die Wiederherstellung der Sicherheit».
Warnung an «säkulare Elemente»
Nach wie vor wird in Libyen gekämpft. Ein Mitglied des Übergangsrats bestätigte dem «Guardian», dass die Regierungsbildung «bis nach der Befreiung» verschoben werde. Das Gerangel um die Macht aber hält an. Vor allem die Islamisten melden ihre Ansprüche an. Abdel Hakim Belhadsch, der Militärkommandant von Tripolis und wohl wichtigste Anführer der Islamisten, verwahrte sich in einem Beitrag für den «Guardian» gegen Versuche von «säkularen Elementen», die religiösen Kräfte zu marginalisieren und isolieren.
Belhadsch ist eine umstrittene Figur. Er war Mitbegründer der extremistischen Libyschen Islamischen Kampfgruppe, wurde 2004 von den Amerikanern verhaftet und an das Gaddafi-Regime ausgeliefert. Sieben Jahre verbrachte er im Gefängnis. Inzwischen hat er sich vom Terrorismus losgesagt. Im «Guardian» legt er ein Bekenntnis ab zur Demokratie und zu einem «politisch, wirtschaftlich und sozial fortschrittlichen Bürgerstaat».
Allerdings warnt Belhadsch auch vor den «enormen Risiken», falls einzelne Teilnehmer der Revolution vom politischen Prozess ausgeschlossen würden. Ihre Reaktion könnte «von ernsthafter Natur» sein. Dies dürfte viele Libyer in ihrem Misstrauen bestärken. Zumal Belhadsch auch ein Vertrauter des einflussreichen und umstrittenen Klerikers Ali Sallabi ist. Der hatte kürzlich in einem Interview mit Al Jazeera heftige Kritik an Mahmud Dschibril geübt, den vom Nationalen Übergangsrat eingesetzten Interims-Regierungschef.
Umstrittener Regierungschef
Dschibril gilt als Technokrat, er hat in den USA studiert und geniesst das Vertrauen der westlichen Welt. Doch Kritik an ihm kommt auch von der anderen Seite des politischen Spektrums. «Es ist ein großer Fehler, dass der Westen auf diese fragwürdige Figur setzt», sagte Ahmed Schebani in einem Interview mit der «Aargauer Zeitung». Schebani ist Mitbegründer der Demokratischen Partei Libyens, die sich als derzeit einzige säkulare Kraft in der libyschen Politik versteht und für die Trennung von Staat und Religion eintritt.
Seine Kritik an Mahmud Dschibril ist vernichtend: Er habe die Macht an sich gerissen, ziehe in allen wichtigen Dingen die Fäden im Hintergrund und zeige klar diktatorische Tendenzen. So habe Dschibril ohne Wissen des Übergangsrats lukrative Geschäfte mit ausländischen Ölfirmen abgeschlossen. Außerdem sei er ein «Tribalist», der in den Kategorien von Stamm und Klan denke, so Ahmed Schebani. Im konkreten Fall betrifft es den Warfalla-Stamm, der unter anderem in Bani Walid immer noch bewaffneten Widerstand leistet.
Stämme und Städte wollen Macht
Weil es unter der Gaddafi-Diktatur kaum staatliche Strukturen und schon gar keine Bürgergesellschaft gab, spielen die Stämme in Libyen eine dominante Rolle. Entsprechend fordern sie nun auch Mitbestimmung im Nach-Gaddafi-Staat. Auch die Städte und Regionen wollen einen Teil der Macht, vor allem das wochenlang von Regierungstruppen belagerte und beschossene Misrata.
Beobachter glauben deshalb, dass es mit einer Art erweitertem Übergangsrat als Regierung nicht getan ist. «Es braucht etwas weit Fundamentaleres – einen vollständig repräsentativen Rat, der dann eine Übergangsregierung einsetzt», sagte ein Analyst in Tripolis dem «Guardian». Also eine Art Übergangsparlament. Dieses könnte eine Verfassung ausarbeiten und freie Wahlen vorbereiten, die innerhalb von 20 Monaten erfolgen sollen.
(L'essentiel online/pbl)
Gaddafi in der Wüste?
Zwei Söhne des gestürzten libyschen Machthabers Muammar Gaddafi halten sich nach Angaben des Übergangsrats in zwei der letzten Bastionen des alten Regimes auf. Saif al Islam Gaddafi sei in Bani Walid, sein Bruder Muatassim in Sirte, sagte ein Militärsprecher des Übergangsrats, Oberst Ahmed Bani, am Mittwoch in Tripolis. Gaddafi selbst werde in einem riesigen Wüstengebiet an der algerischen Grenze vermutet.
Bani legte keine Beweise für den Aufenthaltsort der Gaddafi-Söhne vor und ging nicht in die Details. Seine Äußerung war aber die erste offizielle des Übergangsrats zum Verbleib der Gaddafi-Söhne seit der Flucht der langjährigen Herrscherfamilie aus Tripolis Ende vergangenen Monats. Ein anderer Militärsprecher, Abdel Rahman Bussin, sagte zuvor, Gaddafi werde in der Wüste nahe der algerischen Grenze vermutet. Er werde in dem riesigen Gebiet von Tuareg-Kämpfern geschützt, die er wohl dafür bezahle. (dapd)