LuxemburgWie ein Versicherungsagent unversehens obdachlos wird
LUXEMBURG – Serge hat früher für eine Versicherung gearbeitet und musste mit ansehen, wie sein Leben ihm innerhalb weniger Jahre entglitten ist. Heute hat er kein Einkommen, ist obdachlos und auf Almosen angewiesen.

Der Franzose Serge*, der seit 2005 in Beles lebte, hat einst für eine Versicherungsagentur in Differdingen gearbeitet. Bis zu jenem schicksalhaften Tag im Februar 2019 lief alles wie immer. «Nachdem ich bei einem Kunden war, bin ich mit dem Fahrrad nach Hause gefahren. Auf der Fahrt hat mich dann ein Auto angefahren.» Drei Monate habe Serge im Krankenhaus gelegen. Von der Versicherungsgesellschaft, bei der er angestellt war, habe der heute 63-Jährige sieben Monate lang kein Gehalt bekommen, musste aber seine Miete weiterzahlen.
Dann geht es Schlag auf Schlag, für Serge beginnt eine Abwärtsspirale. «Erst hat die Versicherungsgesellschaft meine Internetverbindung gekappt, dann haben sie alle Dokumente, die belegten, dass ich für sie gearbeitet hatte, gesammelt und verschwinden lassen», sagt er. Seit September 2019 bezieht Serge das Einkommen zur sozialen Eingliederung (Revis), das seitdem mehrmals ausgesetzt worden sei. Aus seiner Sicht aus absurden Gründen: «Einmal hat man mir zwei Termine bei der Adem zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten gegeben. Als ich nicht zum Termin erschien, nahm man das dann zum Vorwand.»
«Ich muss im Müll nach Essen wühlen.»
Im April 2023 verliert Serge endgültig seinen Revis-Anspruch und muss aus seiner Wohnung ausziehen. «Nach der Zwangsräumung hatte ich keine Adresse, keine Sozialversicherung, kein Revis mehr. Kurz gesagt, ich war von allem ausgeschlossen.» Schließlich sei er auf der Straße gelandet, wo er nun gezwungen sei «zu betteln oder im Müll zu wühlen, um etwas essen zu können». Seit Anfang Dezember würden die Streetworker der Gemeinde Esch keine Gratismarken mehr an Obdachlose verteilen. Die hätte er vorher gegen eine Mahlzeit für 50 Cent bei der «Stëmm vun der Stroos» eintauschen können, klagt Serge. Die Verteilung von Resten aus Bäckereien und anderen Lebensmittelgeschäften sowie von Decken und Schlafsäcken sei zu seinem Bedauern ebenfalls eingestellt worden.
Seit es Mitte November so richtig kalt wurde, hat Serge in besonders eisigen Nächten das Übernachtungsangebot der «Wanteraktioun» des Roten Kreuzes in Findel genutzt. Diese Erfahrung habe bei ihm Spuren hinterlassen. «Das waren Schlafsäle mit 30 Betten, wo es ständig nach Erbrochenem gerochen hat. Es war laut, Streit und Geschrei waren an der Tagesordnung», erzählt er. Man habe ihm eine Matratze mit gelben und bräunlichen Flecken gegeben. «Stellen Sie sich vor, ständig von Alkoholikern, Drogenabhängigen und gerade aus der Psychiatrie Entlassenen umgeben zu sein. Das ist erschreckend und unmenschlich.» Eines Nachts habe ein «völlig zugedröhnter Kerl» auf ihn uriniert. «Ich fühlte mich dort nicht sicher. Und egal, ob es regnet, friert, stürmt oder schneit, um neun Uhr wirst du rausgeschmissen.»
Serge will wieder auf die Beine kommen
Serge fährt gelegentlich in die Hauptstadt zur «Stëmm vun der Strooss». Anfangs habe er sich geschämt, doch ein anderer Obdachloser habe ihn dazu überredet. «Jetzt duzen mich die Stëmm-Mitarbeiter freundlich», sagt er. Trotzdem sei es unglaublich erniedrigend, dass das Personal seinen Namen kenne.
Auf der Straße kränken Serge die Blicke der Passanten. «Ich sehe darin nur Verachtung, ich fühle mich wie ein Stück Dreck. Die Leute tun alles, um dir das zu zeigen.» Einmal habe ihm einer eine Tüte Chips hingehalten und gefragt: «Willst du welche?» Dann habe der Mann den Inhalt langsam vor ihm auf den Boden gestreut. Ganz unten angekommen, sucht Serge nun nach Lösungen, um wieder auf die Beine zu kommen. Vor allem aber möchte er die Öffentlichkeit für seine persönliche Geschichte sensibilisieren. Denn sein Schicksal könne jeden treffen: «Man sieht es nicht kommen.»
*Name geändert
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