Jean Asselborn im Interview – «Nur wenige Länder haben mehr zu verlieren»

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Jean Asselborn im Interview«Nur wenige Länder haben mehr zu verlieren»

LUXEMBURG - Außenminister Jean Asselborn zieht Bilanz über die Corona-Pandemie und die Probleme für das Großherzogtum durch Grenzschließungen.

Jean Asselborn setzte sich während der ersten Welle der Corona-Pandemie für die Grenzöffnung zu Deutschland ein.

Jean Asselborn setzte sich während der ersten Welle der Corona-Pandemie für die Grenzöffnung zu Deutschland ein.

L'essentiel: Wie haben Sie zu Beginn der Krise mit den Nachbarländern verhandelt? Wie halten Sie derzeit Kontakt zu Ihren Gesprächspartnern?

Jean Asselborn, Außenminister (LSAP): Für die Eindämmungsmaßnahmen zu Beginn der Pandemie haben wir vor allem auf Videokonferenzen gesetzt. Heute gibt es wieder mehr klassische Gespräche, aber der Einsatz anderer Kommunikationsmittel bleibt wichtig. Gespräche finden sowohl mit den Nachbarländen, den angrenzenden Bundesländern als auch in multilateralen Runden, wie beispielsweise auf EU-Ebene oder mit den Benelux-Ländern statt.

Was befürchten Sie hinsichtlich der offenen Grenzen in der EU?

Nach der ersten Phase der Krise mit Lockdowns und Grenzkontrollen, geht es in der zweiten Phase mehr um die Einführung von Reisebeschränkungen indirekter Art, wie etwa Quarantäneauflagen. Grundsätzlich sehe ich jedoch auf gesamteuropäischer Ebene die Gefahr, dass das in den europäischen Verträgen vorgesehene Recht auf Freizügigkeit gefährdet werden könnte. Ich werde nicht müde, immer wieder zu wiederholen, dass ein Virus nicht durch direkte oder indirekte Grenzbeschränkungen gestoppt werden kann.

Bedeutet die Corona-Krise die Rückkehr der Grenzen?

Der Kampf gegen eine Pandemie kann nicht mit einem nationalen Rückzug einhergehen. Im Gegenteil, es muss eine möglichst enge Zusammenarbeit, insbesondere auf grenzüberschreitender Ebene, hergestellt werden. Ich sehe die Gefahr, dass der Geist von Schengen degradiert wird, wenn das Bewusstsein für die Existenz einer Grenze in den Köpfen der Menschen wieder Fuß fasst. Und das obwohl die Menschen nun seit Jahrzehnten gewohnt sind, ihr Privat- und Berufsleben grenzüberschreitend zu organisieren. Ein Mentalitätswandel darf sich nicht mit der Zeit durchsetzen. Nur wenige Länder haben dabei mehr zu verlieren als Luxemburg.

Während der ersten Phase der Krise hatte jedes Land seine eigenen Beschränkungen erlassen, was die ganze Sache sehr unübersichtlich machte. Hat die EU versäumt, eine gemeinsame Strategie vorzulegen?

Um Verwirrung zu vermeiden, hat die Europäische Kommission schon sehr früh versucht, den Mitgliedstaaten gemeinsame Ansätze zu empfehlen. Die machten jedoch weiterhin – und tun es immer noch – ihre eigenen Regeln. Was die freien Grenzen betrifft, so wird es darum gehen, die Einhaltung der europäischen Verträge zu gewährleisten. Es wird auch darum gehen, sich auf gemeinsame Kriterien zur Beurteilung der epidemiologischen Situation in verschiedenen Ländern und Regionen zu einigen. Insbesondere ist es notwendig, dabei über den reinen Inzidenzwert hinauszugehen und die Anzahl durchgeführter Tests, nationale Teststrategien, die Anzahl der Neuinfektionen, die Krankenhauseinweisungen, die Patienten auf der Intensivstation und die Sterblichkeitsrate einzubeziehen. Das Ziel muss darin bestehen, einseitige Maßnahmen ohne vorherige Absprache zwischen Nachbarländern zu vermeiden und sicherzustellen, dass es in den Grenzgebieten spezifische Regelungen zur Aufrechterhaltung von Mobilität und Handel gibt.

Hat die Krise offenbart, dass Luxemburg zu sehr von den Grenzgängern abhängig ist?

Die Krise hat das, was bereits bekannt war, in den Vordergrund gerückt. Die Ströme von Grenzarbeitern veranschaulichen, wie stark das Großherzogtum und seine Nachbarregionen voneinander abhängig sind. Das soll auch so bleiben, denn es ist sicherlich keine schlechte Sache. Gerade in diesen Grenzregionen wird der europäische Gedanke von Tag zu Tag gelebt. Offene Grenzen sind eine Voraussetzung dafür. Ich bin optimistisch, dass Europa in der Lage sein wird, wieder zusammenzufinden. Ich für meinen Teil arbeite jeden Tag daran.

Wie hat sich Ihre Rolle als Außenminister seit 2004 entwickelt?

Es ist klar, dass die Politik in der Welt, Europa und Luxemburg in den letzten 16 Jahren nicht stehen geblieben ist. Ich habe es schon einmal gesagt: Im Jahr 2004, nach dem Irak-Krieg, nach der großen Erweiterung der EU und sogar nach der Ablehnung des Verfassungsvertrags 2005 durch Frankreich und die Niederlande, gab es große Hoffnungen: Bessere amerikanisch-russisch-europäische Zusammenarbeit, der Wunsch nach Stabilisierung im Nahen Osten, demokratische Fortschritte in Afrika und Südamerika und so weiter und so fort. Nach der Flüchtlingskrise 2015, der Brexit-Krise im Jahr 2016 und der Wahl von Präsident Trump im selben Jahr, zusammen mit einer ernsthaften Herausforderung des Multilateralismus, hat die Angst vor der Zukunft zugenommen.

Werden Sie manchmal müde oder entmutigt?

Entmutigung in der Politik ist gleichbedeutend mit Fatalismus und Aufgeben. Nein, wir müssen diese Geisteshaltung ablegen.

(Joseph Gaulier/L'essentiel)

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