SynästhesieUS-Arzt kann Schmerzen seiner Patienten spüren
Der Mediziner Joel Salinas spürt am eigenen Leib, wie es seinen Patienten geht. Besonders schlimm ist es für ihn, wenn jemand vor seinen Augen stirbt.

Joel Salinas war 22 Jahre alt, als er bemerkte, dass er anders war. Als Medizinstudent war er in den Ferien in Indien, als ein Kommilitone eine Gruppe von Menschen beschrieb, die mit jedem Buchstaben eine Farbe assoziieren. Das träfe doch auf die meisten Menschen zu, bemerkte Salinas erstaunt. «Er sah mich an und sagte: ‹Das trifft überhaupt nicht auf jeden zu.›»
Heute ist Joel Salinas (34) Neurologe am Massachusetts General Hospital und weiß: Er ist Mirror-Touch-Synästhetiker. Hört er Musik, sieht er dabei Farben, Zahlen haben für ihn eine Persönlichkeit. Außerdem spürt er die Empfindungen anderer Menschen am eigenen Leib.
Er überprüfte vor dem Spiegel, ob er nicht selber tot war
Die beeindruckendste Erfahrung hatte er im Jahr 2008, erzählt er dem Sender BBC. An diesem Tag sah er einen Menschen sterben. «Ein Mann hatte einen Herzstillstand erlitten und es erwischte mich total unvorbereitet. Ich sah zu, wie er eine Herzdruckmassage bekam. Ich konnte meinen Rücken auf dem Linoleumboden und die Kompressionen auf meiner eigenen Brust spüren. Ich spürte auch, wie der Atemschlauch in meinem Hals kratzte.»
Nach 30 Minuten wurde der Mann für tot erklärt. «Ich empfand eine unheimliche Stille», schildert Salinas seine Erfahrung. Alle körperlichen Empfindungen seien verschwunden, es war, so beschreibt er es, als «wäre in einem Raum die Klimaanlage plötzlich ausgeschaltet worden.» Das Gefühl war so überwältigend, dass Salinas auf die Toilette flüchtete, um sich vor dem Spiegel zu vergewissern, dass er noch lebte.
Operationen verursachen ein «windendes» Gefühl
In seinem Buch «Mirror Touch», das 2017 erschien, erzählt der Arzt auch von seinen ersten Erlebnissen. «Als Kind schaute ich gerne Cartoons im Fernsehen. Wenn der Road Runner zum Beispiel seine Zunge herausstreckte, spürte ich, dass ich meine Zunge herausstreckte, und wenn der Coyote von einem Lastwagen überfahren wurde, spürte ich das bei mir.»
Als er sein Medizinstudium begann, wurden die Symptome intensiver. Das erste Mal, als er bei einem jungen Patienten beobachtete, wie sein Bauch während einer Operation aufgeschnitten wurde, sei ein «heißes und windendes» Gefühl beim angehenden Arzt aufgekommen. Noch schlimmer war es, als er das erste Mal einen Menschen sterben sah: Er musste sich sofort übergeben.
Geht es den Patienten gut, geht es auch Salinas gut
Mit der Zeit merkte Salinas, dass die Symptome deutlicher waren, wenn er von einer Situation bei den Patienten überrascht wurde oder wenn diese ihm etwas ähnlich waren. Er versuchte mit gewissen Techniken, das Problem zu überwinden. «Ich konzentriere mich dann auf die Kleider der Menschen oder auf mich selber».
Inzwischen kann der Mediziner gut mit seiner extremen Einfühlsamkeit umgehen. Es helfe ihn sehr bei der Behandlung seiner Patienten. «Ich merke schnell, wenn ihnen etwas fehlt.» Salinas' Kondition hat natürlich auch eine dankbare Seite: Wenn es seinen Patienten wieder besser geht, kommt auch bei ihm ein Gefühl von Wohlbefinden auf.
(L'essentiel/mlr/kle)