Sexuelle Bombe – Vor 60 Jahren schlug der Kinsey-Report ein

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Sexuelle BombeVor 60 Jahren schlug der Kinsey-Report ein

Für viele war er ein Schmutzfink, der Perversionen enthüllte: 1953 hat Alfred Kinsey mit seinem Bericht über die Sexualität der Frau ein Tabu gebrochen.

Vielleicht war es einfach nur Neugier. Vielleicht aber auch der Umstand, dass er mit 27 unberührt in die Ehe ging und die Hochzeitsnacht ein Desaster war: Der amerikanische Zoologe Alfred Kinsey war der große Faktensammler, wenn es um Sex ging.

Nachdem er bei Tausenden unter die Bettdecke geschaut hatte, veröffentlichte er zwei Berichte, die Skandal und Aufbruch zugleich waren. Der zweite und aufsehenerregendere, der die Sexualität der Frau beleuchtete, kam vor 60 Jahren, am 14. September 1953, heraus.

Wie der große Aufklärer sah Kinsey nicht aus: Strubbelige Haare, schiefsitzende Fliege und Anzüge, die auch Ende der 1940er nicht mehr so taufrisch waren. Seine Vorträge waren monoton, aber er galt als Experte. Für Gallwespen.

Der Insektenforscher hatte sich mehr als 20 Jahre der Art gewidmet, bevor er merkte, dass in den USA über das Paarungsverhalten der Spezies Gallwespe mehr bekannt war als über das Paarungsverhalten der Spezies Mensch. Also befragten er und seine Mitarbeiter Tausende Menschen, sehr intim und sehr anonym.

Gesellschaft entsetzt

Der Bericht über die Sexualität der Männer sorgte 1948 schon für Aufsehen, schrieb Kinsey doch, dass Homosexualität keine Randerscheinung und schwule Gefühle auch bei Heteros weit verbreitet seien. Auch das Thema Selbstbefriedigung wurde aus dem Verborgenen gerissen.

Erregung durch sadomasochistische Schilderungen? Bei fast jedem Vierten. Und obwohl man ahnen konnte, dass bei der Sexualität des Mannes oftmals auch eine Frau dabei war – die junge Frau der Fünfziger war doch keusch und züchtig und schätzte den Beischlaf doch höchstens als Blümchensex. Oder?

Skandal: Jede vierte Frau nehme es mit der Treue nicht so genau, behauptete Kinsey 1953 nach der Befragung von 6000 Frauen. Gut die Hälfte gehe zwar in unschuldigem Weiß, aber beileibe nicht unerfahren in die Ehe.

Wie oft katholische, protestantische, jüdische Frauen in welchem Alter und mit welchen Schulabschluss beim ehelichen oder unehelichen Koitus wie oft zum Orgasmus kämen oder wann sie masturbierten – all das stand auf 1600 Seiten und entsetzte die Gesellschaft.

Kritik nicht ganz unberechtigt

Ganz unberechtigt war die Kritik an Kinsey nicht: Würden nicht, zugesicherte Anonymität hin oder her, gerade solche Leute über ihre Sexualität Auskunft geben, die eher experimentierfreudig und offen sind?

Und ging der Zoologe nicht etwas zu trocken an die Materie, in dem er Menschen wie Tiere untersuchte? Schon der Titel «Das sexuelle Verhalten des menschlichen Weibchens» («Sexual Behavior in the Human Female») zeigte doch, dass Kinsey Werten wie Gefühl, Psychologie und Seele keine Beachtung schenkte.

Die Kritik ist nicht verstummt. Religiöse und Feministinnen gehen in seltener Eintracht dagegen vor und Experten kritisieren, dass Kinsey seine Folgerungen über sexuelle Gefühle von Kindern auf die Erfahrungen eines Pädophilen stützte.

War er besessen von Sex? Oder von der Forschung? Er ließ 2000 Männer vor der Kamera onanieren, um herauszufinden, ob Sperma spritzt oder tropft. Und er veranstaltete Gruppensex zwischen seinen Mitarbeitern, deren Ehepartnern und anderen Freiwilligen, und beobachtete das. Seine Frau klagte: «Seit mein Mann mit dem Sex angefangen hat, sehe ich ihn kaum noch.»

Befreiungsschlag

Und dennoch, es war ein Befreiungsschlag. «Aufgewachsen im Irland der 50er und 60er Jahre, habe ich eine Welt voller sexueller Tabus und Bigotterie selbst erlebt», sagt der Hollywoodstar Liam Neeson. «Und ich muss sagen: Die Arbeit von Kinsey ist unschätzbar.» Neeson hatte Kinsey 2004 in dem gleichnamigen Film porträtiert (siehe Trailer unten).

Und Oswalt Kolle, ein anderer großer Aufklärer, sagte 1998: «Der Kinsey-Report ist ein absolutes Jahrhundertwerk, ohne das unser Jahrhundert anders ausgesehen hätte».

(L'essentiel Online/dhr/sda)

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